Kopf in den Sand oder das Recht auf Nichtwissen

Kopf in den Sand oder das Recht auf Nichtwissen,

Ich treffe in hämatologischen Praxen, Unikliniken, Studienambulanzen und verschiedenen Therapieräumen ständig auf  Patienten (und Angehörige), die keine Ahnung haben, welche Erkrankung sie haben, was diese bei ihnen anrichtet, welche Therapie oder welches Studienmedikament sie bekommen. Ich bin jedes Mal irritiert und ungläubig. Worüber sprechen die mit ihren Ärzten ? Was sagen die Ärzte zu ihnen?

Bei einem Studienmedikament sind sie theoretisch durch ein vorgeschriebenes spezielles Gespräch aufgeklärt worden und unterzeichnen eine mehrseitige Einverständniserklärung! Es gibt eine große Zahl (Ja!) von Patienten, die davon aber scheinbar kaum etwas mitbekommt. Es gibt ja allerlei Nachlässigkeiten im Gesundheitssystem, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in extra eingerichteten Studienambulanzen die gesetzlich vorgesehenen Aufklärungsgespräche oftmals nicht stattfinden und den Patienten der Stift geführt wird. Was ist da los? Warum kommen die Inhalte von Gespräch und Text bei den Patienten nicht an? Antwort auf meine Nachfrage: „Ja, ich habe irgendwas unterschrieben. Ich weiß nicht mehr genau, was das war.“

Wir Patienten kommen unweigerlich ins Gespräch in ambulanten Tageskliniken oder Praxen…Wo liegt man sonst so nahe beieinander, als Fremde nebeneinander auf Betten oder Liegesesseln, verdammt zum Nichtstun, Musik hören, Lesen oder – wenn es einem nicht gut geht – zum Schlafen? Meistens allerdings wartet man, darauf, dass die Therapie endlich beginnt oder dass sie durchgelaufen ist.

Ich stelle also irgendwann die neugierige und ketzerische Frage, „Was haben Sie denn für eine Krankheit?“ Und lasse nach einer kurzen Schonpause von Zuhören und Smalltalk gleich die nächste vom Stapel, wenn ich mal wieder auf einen Nichtwisser gestoßen bin „Warum wissen Sie „ES“ denn nicht?“ Ja, so direkt. Die meisten lassen sich auf ein Gespräch ein, dann treibe ich  es oft noch schlimmer mit Sätzen wie „Es könnte um ihr Leben gehen.“

Oftmals begleitet von Achselzucken oder auch von eindeutigem Ausdruck eines schlechten Gewissens bekomme ich in der Regel folgende Antworten: „Da müssen Sie meine Frau/meinen Mann fragen, die/der weiß besser Bescheid.“ „Ich weiß auch nicht, Sie haben Recht, ich sollte „diese Dinge“ wissen und mich mehr dafür interessieren.“ „Die Ärzte wissen schon, was richtig ist für mich“. „Ich möchte „ES“ lieber nicht wissen.“ „Ich verstehe das alles sowieso nicht.“

Dann  fahre ich meistens meinen letzten „Angriff“: „Ihr ganzes Leben bis hierher haben Sie Verantwortung übernommen für Ihre Familie, für Ihren Job, für Ihr Auto….haben getan, was Sie für das Beste hielten um alles so lange wie möglich zu erhalten. Jetzt ist die Zeit gekommen, wo Sie für Ihren Körper Verantwortung übernehmen müssen. Die Ärzte helfen Ihnen und Sie haben Einfluss darauf, was mit Ihnen gemacht wird… Es hat Sie niemand gefragt, aber das Schicksal hat Ihnen mit der Erkrankung eine neue Identität gegeben. Es wird kaum wieder jemals so werden wie vorher….Das anzunehmen ist Ihre beste Chance. Fragen und verstehen Sie, immer wieder. Bleiben Sie kritisch.“

Manchmal empfehle ich patientengerechte Broschüren, den Kontakt zu einer Patientengruppe, aber nicht immer. Man darf nicht zu sehr pushen. Es darf nicht darauf hinaus laufen, dass die Leute denken, man möchte nur Vereinsmitglieder aquirieren.

Es hat noch niemals jemand zu mir gesagt, ich solle ihn/sie in Ruhe lassen. Vielleicht wecke ich den einen oder anderen ein wenig auf, ob es zum „Ändern der Einstellung“ reicht, weiß ich nicht. Vermutlich selten.

Neulich erlebte ich eine völlig absurde Situation auf der Liege zwischen zwei Herren in der ambulanten Hämatologen Praxis: Beide Männer (ca. Mitte 60J.) kannten weder den Namen Ihrer Erkrankung noch den Ihrer Therapie geschweige denn deren Wirkungsweise. Es kam so weit, dass ich anhand der Symptome und der Farbe ihrer Transfusionsbeutel sowie durch die Nennung einiger Medikamentennamen versuchte zu raten, was sie hatten. Beide waren schon mehrere Monate erkrankt. Eine muntere Unterhaltung. Wie man da so rein rutscht, also Sie haben vielleicht „das oder das“….so ein Gespräch müsste eigentlich verboten werden. Währenddessen kam der Assistenzarzt mit den Therapiebeuteln für einen der beiden Herren. Da hörte ich beide den Hämatologen im Chor fragen: „Herr Doktor, was habe ich denn eigentlich?“ Antwort: „Moment, ich muss mal nachgucken.“ -  Was hatten sie denn nun? Der eine hatte ein Mantelzell Lymphom – das hatte ich nicht erraten – der andere hatte ein Myelodysplastisches Syndrom – hier hatte ich richtig gelegen, wen wundert’s ? Ich habe auch eins.

Das Recht auf Nichtwissen. Ja, sicher. Aber dieses Recht hartnäckig auszuüben, wo soll das hinführen? Meiner Meinung nach sollte bei Diagnose- und –Prognosegesprächen neben dem behandelten Arzt ein Psychoonkologe anwesend sein, oder der behandelte Arzt muss in der Kommunikation so geschult sein, dass der Patient den Mut hat die Erkrankung nach und nach als mündiger Patient anzunehmen, dazu sollte er ermutigt werden. Außerdem muss das notwendige Wissen über die Erkrankung und die Therapien in laien-verständlicher Sprache vermittelt werden.

Ich höre oft dort, wo Patientenvertreter auf deutscher und europäischer Ebene politisch zusammen arbeiten und für Patientenrechte eintreten, dass der Paternalismus in der Ärzte-Patienten-Kommunikation (nach dem Motto „doctor knows best“) überholt sei.

Ich kann aus meiner vielfältigen Praxiserfahrung in Deutschland nur sagen: „Nein, das stimmt in vielen Fällen leider nicht“, zumindest nicht bei komplexen Krebserkrankungen und nicht in der Generation 50+, ich   erlebe ich es aber auch mitunter bei Jüngeren.

Ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass die meisten Ärzte sich nicht der „Unwissenheit“ ihrer Patienten bewusst sind. Gespräche mit Ärzten darüber führen sofort zu empörter Selbstverteidigung. „Aber wir haben doch…wir machen doch immer… ich weiß ganz genau, dass ich…“

Es mag vielleicht so aussehen, als ob ich Mitpatienten in ihre Realität zwingen möchte. Tatsächlich ist es so, dass ich auch nicht genau weiß, welches der „richtige Umgang“ mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung ist. Das ist individuell ganz verschieden.  Mein persönliches Motto lautet jedoch: „Mündige Patienten überleben länger“ und manchmal gehe ich damit auf Mission.