Fatigue

Über Fatigue kann fast jeder Krebspatient etwas sagen, wobei Blutkrebspatienten mit Sicherheit die Experten unter den Experten sind. Das ist fast so, als ob man sich über Fußball oder Schule austauscht, das kann auch jeder aus eigener Anschauung kommentieren.

Fatigue ist ja nicht nur Müdigkeit, sondern eine tiefgreifende Erschöpfung , die an Körper und Geist frisst. Ich hätte beinahe noch die Seele mit einbezogen, denn ich empfinde es so, dass sie auch dort ihr Unwesen treibt. Jedenfalls saugt sich Fatigue fest wie ein Blutegel und richtet sich wohnlich ein, auch wenn sie mal nicht aktiv ist, sie ist da und bleibt. Sie ist lästig, kommt ungebeten und sie geht nicht so einfach wieder weg, schon gar nicht durch viel Schlaf. Ich schlafe am schlechtesten, wenn mich die Fatigue gepackt hat. Meistens hat sie mit einem zu tiefen Hämoglobin-Level im Blut zu tun und ist ein typisches Anämiesymptom. Leider aber nicht nur, sondern sie ist tatsächlich eine Begleiterin von Krebspatienten, deren Zellstoffwechsel durch ihre Erkrankung und/oder durch toxische Behandlung gestört werden. „Fatiguemachende“ Stoffe, Substanzen, Proteine entstehen und werden weiter transportiert, in den Zellen werden „Befehle“ erteilt und sticum wird die Fatigue „implantiert“, die dann ihr Eigenleben führt.

Ärzte kommen immer noch ins Stottern, wenn sie Fatigue zwecks Erklärung materialisieren und sie als biochemischen Prozess darstellen wollen. Scheinbar ist das möglich, aber ganz verstanden ist es noch nicht. Es hat lange gedauert bis dieser Zustand überhaupt von Ärzten und dem Gesundheitswesen als krankheitsrelevant anerkannt wurde. Bis heute gilt die Fatigue allein, also wenn die Blutwerte eigentlich in Ordnung sind, noch nicht als Argument für eine Anerkennung oder Höherstufung von Schwerbehinderung. Ein Unding, denn Fatigue kann einem das tägliche Leben echt vermiesen.

Wegen Fatigue musste ich mit 54 in den Ruhestand gehen, kann kein Powerwalking mehr machen oder überhaupt Bewegungen, die auch nur annähernd mit Sport etwas zu tun haben, ich musste das Reisen einschränken, kann mich nur wenige Stunden am Tag konzentrieren, muss immer vorher fragen, ob sich irgendwo eine Sitzgelegenheit befindet, auf der ich mich notfalls ausruhen kann, kann mich nicht mehr beeilen oder irgendwie schneller laufen, abends nicht lange aufbleiben, morgens nicht früh aufstehen, muss Rolltreppen und Fahrstühle dem Treppensteigen vorziehen… und so könnte ich noch eine ganze Weile weiter machen.

Wenn man nicht aufpasst, laufen einem die Freunde davon, weil man ja selten was mit denen machen kann und wenn man doch teilnimmt, kann man leicht zur Spaßbremse werden oder man ist hinterher so fertig, dass man bereut dabei gewesen zu sein. Ja, geschenkt, jetzt gesagt zu bekommen „dann sind es eben keine richtigen Freunde“! Aber soziales Leben funktioniert nun mal leider doch so wie beschrieben. Das schließt ja nicht aus, dass man das Glück hat auch noch einzelne wirkliche Freunde zu haben.

Jedenfalls, wenn einer stinksauer auf seine Fatigue ist, dann bin ich es. Dabei bin ich nett zu ihr und spiele nach ihren Regeln, damit sie mich streckenweise in Ruhe lässt. Das kann funktionieren. Es kommt aber auch vor, dass ich einfach los laufe und wenn sie sich dann meldet, sage ich in scharfem Ton „Jetzt nicht!“ Wenn ich großes Glück habe, funktioniert auch das manchmal. Es ist mitunter spannend, wer von uns beiden sich durchsetzt. Ist mein Hämoglobin-Wert jedoch zusätzlich niedrig und die Sauerstoffversorgung dadurch knapp, dann habe ich schlechte Karten und gebe mich vernünftigerweise schnell geschlagen, aber nur bis zum nächsten Mal!